Beginnt der Schriftspracherwerb mit dem ersten Schultag?

Kinder beginnen nicht erst in der Schule mit dem Schriftspracherwerb.

Im Zusammenhang mit der gesamten Sprachentwicklung werden die ersten Grundsteine schon viel früher gelegt. Diese vorherige Entwicklung findet ihren Höhepunkt in der Ausprägung der sogenannten phonologischen Bewusstheit. Dies geschieht im Vorschulalter. Die Ausprägung der phonologischen Bewusstheit bei einem Kind ist heute eine der Hauptindikatoren dafür, ob die eigentliche Aneignung der Schriftsprache ohne größere Probleme gelingen kann.

Doch wie muss man sich den Prozess des eigentlichen Schriftspracherwerbs nun vorstellen?

Hierzu wurden in den vergangenen Jahrzehnten einige Modelle entwickelt, die z.T. in den unterschiedlichen Methoden zum Schriftspracherwerb in der Schule ihren Niederschlag fanden.

Jedoch, auch wenn es unterschiedliche Modelle zum Schriftspracherwerb gibt, so haben sich doch einige Faktoren herauskristallisiert, in denen im Großen und Ganzen Einigkeit zu bestehen scheint.

Ging man zunächst davon aus, dass der Schriftspracherwerb in Phasen abläuft, die hintereinander durchlaufen werden müssen, so ist man von dieser Ansicht mittlerweile weitgehend abgekommen. Bei den Phasen scheint es sich eher um Strategien zu handeln, die das Kind durchaus nebeneinander erwirbt. Welche Strategien es dann schon anwenden kann, hängt zum Beispiel davon ab, wie präsent das Wort in seinem Wortschatz ist. Dies führt dazu, dass das Kind in bestimmten Wörtern eine Strategie oder Regel anscheinend erkannt und verinnerlicht hat, in anderen Wörtern, wo jedoch dieselbe Regel angewendet werden muss, diese noch nicht erkennt. Es kann auch eine Zeit lang sein, dass es eine Regel für sich erkannt hat und diese nun überall anwendet (Übergeneralisierung).

Um welche Strategien geht es beim Schriftspracherwerb?

Das Phasenmodell von Frith (1986) zeigt eigentlich recht anschaulich, wie ein Kind das Lesen und Schreiben erwirbt. Frith sprach allerdings nicht von Strategien, sondern wie gesagt von Phasen, die hintereinander durchlaufen werden.

Präliteral-symbolische Phase:

Kinder entdecken die Funktion der Schriftsprache und beginnen sie auszuprobieren. Typisch hierfür ist das So-tun-als-ob-Schreiben (Kritzelbilder) und das So-tun-als-ob-Lesen. Um diese Entdeckung machen zu können, ist es wichtig, dass Kinder schon früh mit Büchern in Berührung kommen (vorlesen) und auch Erwachsene beim Schreiben beobachten können.

Logographische Phase:

Kinder nehmen nun die Form von Buchstaben wahr und beginnen sie abzumalen. Sie können den Buchstaben aber noch keine Namen oder Laute zuordnen. Jetzt können auch schon Briefe entstehen, in denen einfach Buchstaben aneinandergereiht werden. Hierbei handelt es sich meist um Großbuchstaben. Oft erfassen die Kinder auch schon, dass von links nach rechts und von oben nach unten gelesen bzw. geschrieben wird. Nun lernen Kinder auch meistens, ihre eigenen Namen zu schreiben. Sie lesen Worte, die sie nur anhand ihrer spezifischen Form erkennen (z.B. bekannte Marken).

Alphabetische Phase:

Die Kinder befinden sich jetzt im Vorschulalter bzw. in der ersten Klasse. Sie lernen nun, die entsprechenden Laute den Buchstaben zuzuordnen und erste Wörter oft mithilfe einer Anlauttabelle zu schreiben. Gleichzeitig beginnen sie zu lesen, wobei die Wörter zunächst Buchstabe für Buchstabe (oder silbenweise – je nach Methode) erlesen werden und erst später als Ganzwort erkannt werden.

Beim Schreiben richten sich die Kinder noch strikt nach der eigenen Aussprache. Zunächst sind sie noch nicht in der Lage, Vokale herauszuhören. Daher kommt es zur sogenannten Skelettschreibung. ( Kml für Kamel). Mit zunehmender Entfaltung der alphabetischen Strategien werden schließlich alle Laute verschriftet, die im Wort zu hören sind.

Orthographisch-morphologische Phase – Rechtschreibregeln:

Zunehmend erkennen Kinder nun, dass sie sich auf das gesprochene Wort beim Schreiben nicht ausschließlich verlassen können. Viele Wörter werden nicht so geschrieben, wie sie gesprochen werden. Jetzt rücken die Rechtschreibregeln und die Grammatik in den Fokus.

Der kompetente Schreiber wird später die Regeln nicht unbedingt benennen können. Wichtig ist, dass es zu einer internen Regelbildung kommt, sodass man Regeln nach Gefühl auch auf Wörter korrekt übertragen kann, die man noch nie geschrieben hat (ausgenommen Fremdwörter, veraltete Schreibweisen und Ausnahmen).

Lernt das Kind all diese Strategien von alleine – ähnlich wie das Sprechen?

Einige Konzepte gehen in der Tat davon aus (z.B. Jürgen Reichen). Und wirklich, es gibt Kinder, die in der Lage sind, sich das Lesen und Schreiben zu einem großen Teil selber beizubringen, aber das sollte nicht der Maßstab sein. Die meisten Kinder brauchen Hilfe und es ist sinnvoll, gerade bei den orthographischen und morphologischen Strategien gezielt Anleitungen zu geben. Und auch bei den alphabetischen Strategien geht es in der Regel nicht ganz ohne konkrete Anleitungen.

Wann sollte man jedoch beginnen, die Kinder an Rechtschreibregeln heranzuführen? Hier gehen die Meinungen wirklich auseinander. Strikte Verfechter der Methode Lesen durch Schreiben (Reichen) fangen in der Tat sehr spät damit an.

Da es zu dem richtigen Zeitpunkt keine einhellige Meinung gibt, kann dies schon von Lehrer zu Lehrer sehr unterschiedlich gehandhabt werden. Die Stimmen werden jedoch lauter, die für ein wesentlich früheres Heranführen an die Rechtschreibregeln plädieren. (Aus meiner Erfahrung heraus kann ich mich dem nur anschließen.)

Mittlerweile weiß man, dass Kinder schon recht früh beginnen, sich die orthographisch- morphologischen Strategien anzueignen, auch wenn sie noch nicht alle alphabetischen Strategien anwenden. Um hier einer fehlerhaften Strategieaneignung vorzubeugen, sollten meiner Meinung nach schon von Anfang an, die Rechtschreibregeln und die Grammatik im Unterricht berücksichtigt werden.

Die in letzter Zeit durch die Medien geisternde Verteuflung von Anlauttabelle und freiem Schreiben im Anfangsunterricht (siehe Spiegel-Bericht ), kann ich jedoch auch nicht unterstützen, da diese Methode vielen Kindern einen Einstieg in das Schreiben und Lesen verschafft, die sie sehr schnell Erfolge erleben lässt und dadurch ungemein motiviert

Wann endet der Schriftspracherwerb?

Gar nicht. Auch als Erwachsene erweitern wir immer noch unseren Wortschatz und schreiben neue Wörter. Fremdwörter, veraltete Schreibungen und Ausnahmen muss auch der erwachsene Mensch gelegentlich immer noch nachschlagen.

Ist es das Ziel hundertprozentig fehlerlos zu schreiben?

Jemand, der von sich behauptet, er schreibt nie einen Fehler, der lügt. Jeder von uns macht Fehler.

Kinder haben oft die Vorstellung, dass ein guter Rechtschreiber keine Fehler macht. Das ist falsch und erzeugt eine Menge Druck, der nicht sein muss. Ein guter Rechtschreiber übernimmt Verantwortung für seinen Text und korrigiert ihn nach bestem Wissen und Gewissen. Leider wird bei der Rechtschreibbenotung in der Schule der Fokus meist falsch gesetzt, indem Fehlerlosigkeit honoriert wird, die Anstrengung des Kindes, seine Fehler nach bestem Wissen und Gewissen zu korrigieren jedoch nicht. Dies führt dazu, dass vor allem Kinder, die Schwierigkeiten mit dem Schreiben haben, schnell den Mut verlieren.

In diesem Sinne

Beim Schreiben steht man auf zwei Beinen – das erste Bein heißt Schreiben – das zweite Bein heißt Korrigieren – und das gilt für alle – auch für gute Rechtschreiber.

 Weitere Informationen zum Thema: Schriftspracherwerb in der Schule